Als ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Lap Top sah, war es wie ein Wunder.
Mein Vater war ein Sammler von Technik, Radios und Uhren. Mehrere Wochen wollte er mir seine neueste “Datenbank” zeigen – eine Datenbank war ein Taschenrechnerähnliches Gerät mit Schreibfunktion und Speicherplatz. Ich war nicht sonderlich intressiert, weil er schon so viele davon sein Eigen nannte.
Eines Tages ging ich in das Schlafzimmer meiner Eltern. Als ich auf den Tisch meines Vaters blickte konnte ich meinen Augen nicht trauen. Ein Lap Top!!!
Ein schwarzes, für damalige Verhältnisse, und ich rede vom Jahre des Herrn 1996, flaches, eckiges Ding – meinem Wissen nach sündhaft teuer, somit für uns nicht leistbar.
Ein Sonderangebot. Ein erfüllter Traum.
Sofort fragte ich meinen Vater,”Was ist das?”, die Betonung lag auf dem “a” und war sehr langgezogen im neugierigen, ungläubigen Ton.
Natürlich sah ich für mich sofort meine Chanzen. Ich anektierte den Lap Top sofort. Freilich unter dem Vorwand ihn nur mal ansehen zu wollen, ihn auszuborgen und gleich wieder zurück zu geben.
Ja.
Mein Vater war sehr gutmütig. Ein herzensguter Mensch, der Zeit seines Lebens wie ein Kind begeisterungsfähig war. Über für manche simple Dinge wie Notizblöcke konnte er sich mit aller Ehrlichkeit freuen und brachte seine blauen Augen zum Strahlen. “Ohhhhhhhhhhhhhhhhh...”, pflegte er zu sagen, wenn ich ihm etwas schenkte.
Einfache Sachen, eben wie dieser erwähnte Notizblock oder ein Stift, weil ich nicht genug Geld hatte. “Ohhhhhhhhhhh....”, sagte er, seine Augen gingen auf, sein Gesicht erhellte sich von einer Sekunde auf die andere im Glanz seines Lächelns, nahm die Geschenke entgegen und meinte mit absoluter Freude in seiner Stimme, “Vergelts Gott!”
Vergelts Gott.
Worte, die heut zu Tage nur noch selten im Gebrauch sind. Ein junger Mensch, oder sogar ich, die ich mich in meinen 30iger befinde würde sagen, “Coooooooooool, danke!”
Die Dankesworte meines Vaters waren somit ein Indiz darüber, dass er aus einer anderen Zeit stammte. Freilich und sowieso. Wie könnts denn anders sein? Allerdings eine Zeit, in der die Menschen untereinander noch höflicher waren. Zumindestens verbal. Zweiter Weltkrieg? Holocaust? Dort Kriege? Da Kriege? Massenmorde? Kalter Krieg? Ah...schon wieder ein Krieg, Bomben...Atombomben!
Aber die Leute waren ausgesucht höflich und hatten Manieren. Trugen Anzüge, Hüte und die Frauen hatten immer tolle, in Locken gelegte Haare. Hatten sie.
Vergelts Gott.
Gern geschehen.
Mein Vater hatte es nicht leicht. Er war krank. Wurde mit den Jahren noch kränker. Doch keinen einzigen Tag, bis an sein Lebensende hat er sich jemals beschwert. Er lebte mit seiner Krankheit. Lebte mit seinem eingeschränkten Bewegunsradius, obwohl er passionierter Wanderer gewesen war.
Die letzte Tat, die ich für ihn tun konnte war ihm im Krankenhaus, nachdem er sein Mittagessen wieder hochgewürgt hatte, den Bart zu reinigen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meinen Vater schon lange nicht mehr körperlich berührt. Diese eine, letzte Berührung, diese Intimität war ein Geschenk von dem ich in diesem Augenblick nichts wusste. Dass mein Vater sterben würde. Dass ich ihn nie wieder sehen würde.
Dass mich meine Mutter eines Morgens anrufen würde um mir zu sagen, dass mein Vater gestorben sei. Wie Elvis. Gerade beim Erheben vom Leibstuhl. Wie episch. Der Schlag der Götter.
Ich wusste nicht, dass mein Bruder der jahrelang nicht geweint hatte nicht mehr anders können würde, als den Tränen freien Lauf zu lassen und doch noch immer bemüht sein würde sie zu unterdrücken.
Nein, ich wusste noch nicht dass für meine Mutter, die meinen Vater hingebungsvoll gepflegt hatte eine Welt zusammen brechen würde. Sowie von all den Jahren, die noch folgen würden – von der Trauer, der Verdrängung, der Aufarbeitung und der Zusammenrückung der restlichen Familie.
Als ich meinem Vater mit der Serviette über den Bart strich, wusste ich von all dem nichts.
Es fehlt ein Teil.
Es fehlt ein so wichtiger Teil.
Ich kann garnicht sagen wie weh das tut.
Jetzt, nach fast vier Jahren bin ich fähig darüber zu schreiben. So ausführlich noch dazu. Dabei war es nicht mein Plan zu diesem Thema zu kommen.
Ich wollte über meinen ersten Lap Top schreiben. Mein erster Lap Top, den ich von meinem Vater anektiert hatte.
Den alten Lap Top gibt es noch. Ich habe mittlerweile einen neuen, ultramodernen und superschnellen.
Meinen Vater gibt es nicht mehr. Einen neuen auf biologischer Basis bekomme ich nicht.
Dafür ist er, auch wenn es abgedroschen klngt in meinem Herzen und in meiner Erinnerung. Abseits davon stammt ein Großteil meiner Genetik von ihm. Wenn ich in den Spiegel blicke dann kann ich Teile von ihm in meinem Gesicht sehen. Das ist die Wahrheit und ich bin zum ersten Mal fähig mich den Erinnerungen zu öffnen. Denn um an die Erinnerungen zu kommen muss man zuerst den Schmerz des Verlustes durchschreiten, bevor man zu den sonnigen, schönen Eindrücken gelangt, die man gemeinsam geteilt hat.
Ich sehe Teile von ihm in meinem Gesicht. Das Strahlen seiner Augen ist das meine.
Vergelts Gott für das Geschenk des Lebens. Vergelts Gott für alles. Besonders den Lap Top.
Lachen konnte mein Vater immer.